Wieder greifbar: Sudermanns Schrift „Verrohung in der Theaterkritik“
Hermann Sudermann, ein politisch überaus engagierter Schriftsteller, der sich schon früh für die Rechte der schreibenden Zunft einsetzte – darin sowohl journalistische als auch schriftstellerische Interessen vertretend –, war auseinandersetzungsstark, kampfeswillig und unverdrossen. Er gehörte zahlreichen Verbänden an oder stand ihnen vor wie dem Verein Berliner Presse oder dem P.E.N.-Club Deutschland; er rief berufspolitische Initiativen ins Leben und sammelte Mitstreiter um sich. Vor diesem Hintergrund ist seine 1902 verfasste Schrift „Verrohung in der Theaterkritik“ nur als eine Facette in seinem Kampf für die Entfaltungsfreiheit der Künste und der Presse zu sehen. Und doch ist sie zugleich diejenige gewesen, deren Inhalt ihn am meisten persönlich betraf und mit der er sich am stärksten als Mensch exponierte und anfechtbar machte.
Sudermann sprach sicherlich auch in eigener Sache, als er im Winter 1902 in fünf Artikeln im Berliner Tageblatt gegen eine in seinen Augen hemmungslos gewordene Kritikerschar vorging, die Berichterstattung durch Injurien und Verunglimpfungen ersetzt hatte. Doch zugleich trachtete er Objektivität zu wahren, indem er seine Argumente durch Zitate aus der damaligen Tagespresse zu stützen und auf eine breite Basis zu stellen suchte. Der Vorwurf, der ihm von Kritikerseite daraus gemacht wurde – befangen zu sein und nur in eigener Sache zu reden –, mutet demnach kurzsichtig an. Wer, wenn nicht der Betroffene selbst, sollte zum Verteidiger und Fürsprecher werden?
Gleichwohl, im Falle des Theaterkritikers Alfred Kerr, den er als seinen schlimmsten Widersacher ausmachte, verließ Sudermann die selbst auferlegte Zurückhaltung: Er wurde unsachlich und beleidigend. Die Retourkutsche kam 1903 postwendend in Form eines weit ausholenden Pamphlets „Herr Sudermann, der D .. Di .. Dichter. Ein kritisches Vademecum“.
War Sudermann gut beraten, den Kampf mit den Theaterkritikern seiner Zeit aufzunehmen? Folgt man Siegfried Unseld, dem Verleger des Suhrkamp-Verlages, dann wäre Schweigen der bessere Weg gewesen. Als Martin Walser, erbost durch schlechte Kritiken durch Marcel Reich-Ranicki, zum Gegenangriff rüstete, konnte Unseld ihn besänftigen mit dem Hinweis: „… dass der Autor nur komisch wirke, wenn er zeige, wie sehr ihn eine Kritik getroffen habe.“
(aus dem Tagebuch vom 27.3.1976, in: Martin Walser: Leben und Schreiben, in Auszügen abgedruckt in FAZ, 13.03.2010, Nr. 61, S. Z3)
Sudermann gab in seiner Schrift vor, die Reaktionen der Kritiker mit „Seelenruhe“ empfangen zu haben (S. 20 der Abschrift). Ganz anders lautet es in seinem Brief vom sechsten Dezember 1902:
„Mein liebes Herz!
Was hat sich alles in unserem Leben abgespielt, seit ich zum letzten Mal an diesem Schreibtisch saß! Jahre scheinen vergangen seitdem, und doch sind’s nur wenige Wochen!
Meine Nacht im Schlafwagen war famos. Bis Dresden voll böser Nervosität, von dort ab ruhiger und ruhiger. Es war, als legten die Meilen der Hetze Schranken, als fiele langsam eine Sorge nach der andern ab.
Heute freilich ist alles wieder da – nur leichter überblickbar als daheim. – Das Ende vom Liede wird sein, daß wir unser Ränzel schnüren – das wird mir immer klarer. Und zwar ohne Privatklage,1 zu der H. mich um jeden Preis drängen will.“
1 Gegen den Theaterkritiker Maximilian Harden, der ihn u.a. des Plagiats im „Johannes“ bezichtigt hatte.
(an seine Frau, Wien, 06.12.1902, siehe Irmgard Leux (Hg.): Briefe Hermann Sudermanns an seine Frau (1891-1924), Stuttgart, Berlin 1932, S. 174)
Sicher, die Theaterkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist gut hundert Jahre später undenkbar; die aggressive Stillage jener Tage würde heute wohl eine Folge von Unlassungsklagen nach sich ziehen. Und so hat Sudermann als Dramatiker einen ungleichen Kampf gegen die in Witz und Aperçus beweglichere Presse gefochten und sich selbst damit nachhaltig beschädigt. Was bleibt, ist sein Unterfangen, der Pressefreiheit – für die er in Wort und Tat einstand –, im Hinblick auf Persönlichkeitsrechte auch deren Grenzen aufzuweisen.
Die Schrift, die bislang nur noch in einer schlecht gescannten Version im Buchhandel erhältlich war, steht mit dieser Abschrift für den interessierten Leser als pdf zur Verfügung.