Auf Schloß Blankensee. Ein Besuch bei Sudermann.
Fred Veltin, Berliner Tageblatt, 15.7.1899
In dem eleganten, mit zwei Grauschimmeln bespannten Break (1), den Hermann Sudermann seinen Gästen zur Station entgegenschickt, fahre ich durch das märkische Städtchen Trebbin, über eine mit Steinen gepflasterte, der unfreiwilligen Massage gewidmete Chaussee; dann lenken wir in den Landweg ein.
Zu beiden Seiten und voraus die echte märkische Landschaft: Kornfelder, Kiefernwälder, umbuschte Gehöfte, gut gebaute Dörfer. Allmälig wird der Weg hübscher, malerischer; welliger Boden, Laubgehölz, eine hübsche Windmühle. Und ein Duft nach Korn, Birkenlaub, Fichten und Ackerscholle, dem sich ein undefinierbarer Hauch beimischt: der Athem der noch unsichtbaren großen Seen, des „Krossin“ und des Blankensees. In der bedeckten Beleuchtung dieses Junitages eine etwas schwermüthige, still in sich ruhende Landschaft. Wohl eine halbe Stunde fahren wir durch das Besitztum des mit Sudermann eng befreundeten Barons v. Thümen, dessen seit dem 13. Jahrhundert in der Mark ansässige Familie fünf große Herrschaften besitzen, der sogenannte „Thümensche Winkel“, der früher zu Sachsen gehörte und für die Deserteure Friedrich Wilhelms I. Ein beliebter Zufluchtsort war.
Auf dem größten der Güter, Blankensee, steht das Stammschloß der Familie, das Hermann Sudermann sammt dem dazu gehörigen Park für eine Reihe von Jahren gepachtet hat und wie sein eigenstes Eigenthum liebt, umsorgt und schmückt. Von weitem schon winken uns die uralten Bäume des Parke; dann fahren wir an den Häuschen der Gutsarbeiter, an dem stattlichen Hofe mit den Wirtschaftsgebäuden vorbei auf einen großen, freien Platz. Undeutlich habe ich die Empfindung, links von der Einfahrt alte Bäume, blühende Rosen, Statuen, einen blinkenden Wasserspiegel zu sehen: aber ich komme zu keinem bewußten Anschauen, denn rechts liegt das große, alte Schloß vor uns, den Unterbau berankt mit knospenden Glycinien, davor eine lange Reihe kugelförmig verschnittener Linden, und auf der Freitreppe steht Sudermann und begrüßt mich mit der alten, vollkräftigen Stimme. Er sieht prächtig aus, braungebrannt, gesund und fröhlich; die schlimme Krankheit (2), die ihm lange in den Gliedern gesteckt hat, ehe sie im April dieses Jahres zu ihrem heftigen Ausbruch kam, hat er ganz überwunden – bis auf eine Neigung zur Faullenzerei, der er seit 15 Jahren zum ersten Mal fröhnt, wie er lachend sagt. In der That freilich „spinnt“ er an einem Stück, das in seiner litthauischen Heimat spielt (3), und baut daneben einen Roman aus, dessen Schauplatz theils Ostpreußen, theils Berlin ist; aber vorerst nur im Kopf, nicht auf dem Papier.
ZIch bleibe noch ein Weilchen neben dem Hausherrn auf der Freitreppe stehen und betrachte das schöne Halbrund vor mir: unter ebenfalls stilisierten Linden eine Fülle blühender Rosen, dahinter uralte Bäume, die sich in der Mitte auseinanderthun und den Blick auf blingendes Wasser und grünes Feld freigeben, und als Wächter neben diesem Eingange zwei Statuen aus grauem Sandstein: Zeus und Poseidon, zu beiden Seiten ein Aeskulap (4) und eine Flora. – Friedrich der Große hat die ersteren seinerzeit seinem Potsdamer Baumeister geschenkt.
Diese Statuen, die Sudermann dorthin gesetzt hat, (5) vollenden das Bild dieses alten Herrensitzes und geben ihm Stil. Jetzt kommt von den Rosenbeeten her die blonde, rosige Gattin des Dichters auf uns zu; sie hat ihr helles Sommerkleid ein wenig in die Höhe genommen und trägt in den Falten eine unglaubliche Fülle der herrlichsten Rosen, bestimmt, alle Schalen, Vasen und Champagnergläser des Hauses zu füllen; die kleine Hede (6), das bildschöne Töchterchen, trägt auch einen Korb mit Rosen. Und trotzdem blühen vor uns noch unzählige herrliche Exemplare. Und ich glaube, der stürmische Applaus eines überfüllten Theaters hat Sudermann nicht halb die Freude bereitet, die ihm die ehrliche Bewunderung seiner Garten- und Dekorationskunst einbringt. Es ist so etwas Gutes und Frisches, noch ein Stück Kindes- und ein Stück Künstlernatur in dem Eifer und der Freude, mit dem er aus italienischen Palazzos und deutschen Kirchen Gemälde, kostbare Geräte und Statuen, Teppiche und Stickereinen, namentlich aus dem Cinquecento, zusammenträgt und damit Stadt- und Landhaus schmückt, und in dem Sinnen darüber, wie er Park und Garten noch mehr verschönern kann.
Wir treten nun in „die Halle“, das in großen Verhältnissen erbaute Treppenhaus, von dessen Decke eine sehr schöne, große vergoldete Laterne aus der Renaissance herabhängt, und dem die Hirschgeweihe über dem riesigen Kamin und die leichten Rohrmöbel einen ländlichen Reiz geben – Schilf und Baumzweige in riesiger Vase im Hintergrunde, Wasserrosen auf dem Tische. In dem Eßzimmer – sehr groß wie alle Räume des Hauses und ebenfalls mit schönen alten Geräthen versehen, – nehmen wir vorerst einen leichten Imbiß ein, gehen dann durch die übrigen Zimmer, steigen die Treppe empor, an deren Seiten lange Reihen von alten Ahnenbildern der Thümenschen Familie noch von früher her hängen, statten den Fremdenzimmern einen kurzen Besuch ab, bleiben etwas länger in dem Arbeitszimmer des Dichters, das einen besonderen, fast feierlichen Reiz durch eine tiefe Nische erhält, die mit ihrem schönen alten Kunstgeräth wie eine kleine Kapelle wirkt, und steigen dann wieder hinunter in den eigentlichen Park. Grüngoldene Dämmerung unter diesen uralten Bäumen, Jasmin- und Rosenduft, das Silberband eines Flüßchens; jetzt eine reizende Flora – Rococo – , nicht weit von ihr ein himmlisch dummer, schöner Junge, ganz gewiß der von Aphrodite besonders geliebte Adonis. Eine fast feierliche Stille; über dem Wasser fast träumerischer Glanz. Wir, Frau Sudermann, Herr Sudermann und ich, steigen in ein Boot; er rudert uns das umbuschte Flüßchen entlang zum Blankensee. Eine weite, fast unübersehbar weite Wasserfläche in der ganzen träumerischen, stillen Schönheit der Havelseen. Tiefste Stille. Unser Boot zieht eine endlose silberne Schleppe nach sich. Da, als wir an die Schilfinsel kommen, ein Surren, ein Zwitschern. Aus dem Röhricht steigt eine schwarze Wolke auf, eine zweite, eine dritte; auch gegenüber wird’s lebendig; viele Tausend Staare, die das Schilf auf einer ihrer Reisen als Absteigequartier benutzen, haben wir aus ihrer Ruhe gescheucht. Immer neue Schwärme steigen vor uns auf.
„Na, ist das nicht schön?“ fragt Sudermann, der ein großer Tierfreund ist und immer einen gezähmten Vogel um sich haben muß. Und er setzt ernst hinzu:
„Als ich bei der Aufführung meiner „Drei Reiherfedern“ (7) nach dem dritten Akt sah, daß das Publikum mit dem Stück, das ich am tiefsten aus mir herausgeschrieben habe, nicht mitgehen wollte, da fiel mir auf einmal ein: Du hast ja Dein Blankensee. Dahin reicht die Welt nicht. Und ich wurde ganz ruhig. Nicht wahr, Kläre, hier haben wir Frieden?“
„Ja, Heinz!“ antwortet sie. Aber Zeitungen und Briefe kommen auch hierher.“
„Na ja; aber die Zeitungen braucht man ja nicht zu lesen und die Briefe nicht zu beantworten.“
„Gewiß Heinz! Aber Du liest die Zeitungen doch, und ich beantworte die Briefe.“
„Wozu hab’ ich denn auch ein Weib!“
Sie lächelt; aber ein kleiner Seufzer kommt doch hinterher; denn es ist keine kleine Arbeit, die ihr die Korrespondenz ihres Gatten auferlegt. Und eine angenehme auch gerade nicht. Denn fast alle Briefe wollen etwas haben, vom Autogramm an bis zum Tausendmarkschein oder einem „kleinen Gedicht zu wohltätigem Zwecke“.
Na, blaue Scheine – wenn’s auch nicht gleich Tausendmarkscheine sind – werden oft gegeben, Rath, Beistand, Fürsprache sehr oft. Nur mit der Tinte wirtschaftet Sudermann sehr sparsam. Das soll ja aber ein Standesfehler sein, der so ziemlich allen „Tintenmenschen“ anhaftet. Die Tinte ist so eine Art Herzblut von ihnen, wie mir scheint.
Als wir nach Hause kommen, liegt denn auch richtig der Tisch in der Halle ganz voll von Drucksachen und Briefen. „Gott sei Dank, daß in Blankensee die Post nur zweimal am Tage kommt!“ meint Frau Sudermann.
„Na, Du hast doch Briefe eigentlich sehr gern, Kläre!“
„Wenn’s solche von Freunden sind, gewiß! Und hier ist einer von Mama. Sie kommt in nächster Woche.“
„Das ist recht; da blüht noch alles.“
„Hier ist’s doch in jeder Jahreszeit schön, Heinz!“
Die alte Frau Sudermann, trotz ihrer 72 Jahre noch geistig und körperlich sehr frisch und aufnahmefreudig, kommt jedes Jahr auf 6 bis 8 Wochen nach Blankensee und holt sich dort neue Kraft für den bösen litthauischen Winter. Die Erwähnung seiner Mutter führt uns auf Sudermanns Jugend. Es liegt ein Hauch von Schwermut über dem Dichter, wenn er von den Jahren spricht, die die schönsten des Menschenlebens sein sollen – und es so selten sind.
„Alles, was ich geworden bin, bin ich gegen die Verhältnisse, ja beinahe gegen mich selbst geworden,“ sagt Sudermann. „Studiert habe ich gegen den Willen meines Vaters – und das einzige Studium, das ich ergreifen konnte, die Philologie, war gegen meine Natur, und mein bisheriger Bildungsgang unterstützte es in keiner Weise. Und dann die großen Entbehrungen in den Jahren, wo man von Lebensdrang strotzt, – na, und dann, als ich auf Leben und Tod über die Hindernisse hinwegsetzte und meinem Trieb zur Dichterei folgte – ich hatte schon Frau Sorge“ geschrieben, die mir ja von Vielen im Guten und Bösen noch immer als mein bestes Buch vorgehalten wird – jetzt, nachdem „Die Ehre“ und einiges andere mich bekannt gemacht haben. Damals aber kümmerte sich keine Katze um dieses „beste Buch“ und um mich auch nicht, einige persönliche gute Freunde und ein oder zwei literarische engere Kreise ausgenommen. Ja, leicht ist mir das Leben und der erfolg nicht gemacht worden.!“
„Aber mit desto größerer Freude blickt man auf das Selbsterrungene.“
„Glauben Sie das nicht! Ein Bodensatz von Melancholie bleibt von einer schweren Jugend in der Seele zurück. Und wenn man dann noch ein Metier hat wie das meine und ein halbes oder ganzes Jahr sich ganz in ein schwermütiges Versdrama hineingrübelt, dann kommt man leicht dazu, innerlich zu vereinsamen.“
„Darum mußt Du auch wieder unter Menschen und reisen!“ sagt Frau Klara.
„Ach, laß lieber die Menschen zu mir kommen! Es ist zu schön in Blankensee; ich bange mich doch immer zurück, wo ich auch bin. Aber Du mußt wenigstens mitkommen.“
Ja, schön war es in Blankensee, aber fort mußte auch ich; meine Uhr war abgelaufen; der Wagen stand vor der Tür.
„Die Maus“, die liebliche Hede, reichte mir noch einen Strauß herrlicher Rosen auf den Wagen herauf.
Fred Veltin
Anmerkungen
- Zwei- oder vierspänniger (englischer) Kutschentyp mit hohem Bock, der in der Vis-á-vis-Variante mit zwei gegenüberliegenden Sitzreihen quer zur Fahrtrichtung gerne für Ausflüge genutzt wurde.
- Sudermann litt an Gicht, Störungen der Herztätigkeit, des Magens und Darms und häufig an Bronchitis, die sich bis zur Lungenentzündung steigern konnte (Irmgard Leux, Hermann Sudermann (1857-1928). Eine individualanalytische und schaffenspsychologische Studie, 1931, S. 20). Seine angegriffene Gesundheit zwang ihn wiederholt zu längeren Kur- und Sanatoriumsaufenthalten.
- „Johannisfeuer“ (Schauspiel), Premiere am 5. Oktober 1900, Lessingtheater Berlin.
- Während eines Heilaufenthalts in Würzburg schrieb er am 30.11.1898 seiner Frau: „Eine hübsche, feine Sandsteinfigur ohne Arme – ein Reiz mehr, möchte ich sagen – habe ich gekauft für hundertsechzuig Mark. Sie stellt den Äskulap vor, doch habe ich den Schlangenstab nicht bemerkt, als ich sie sah.“ (Irmgard Leux, Briefe Hermann Sudermanns an seine Frau (1891-1924), 1932, S. 124).
- Von den vier genannten Standbildern, die das im Artikel beschriebene Halbrund des Schloß-Vorplatzes schmückten, hat sich nur Poseidon am ursprünglichen Standort erhalten. Auf einer Abbildung von 1990 ist auch Zeus noch an seinem Platz.
- Hede Frentz-Sudermann (1892–1984).
- „Die drei Reiherfedern“, am 21. Januar 1899 in Dresden uraufgeführt, war das erste Stück des bis dahin erfolgsverwöhnten Dichters, das beim Publikum durchfiel. Die Berliner Premiere fand am Deutschen Theater statt.