Als Sudermann 1902 von Wien an seine Frau schrieb…

Mit den folgenden Briefauszügen möchten wir die Erinnerung an Hermann Sudermann auffrischen sowie das Wissen um sein Schaffen vertiefen und setzen damit eine lose Folge von Artikeln auf unserer Homepage fort. Frühere Briefpassagen finden Sie unter Archiv.

Wien, den 24. September 1902, Hotel Krantz

Selten habe ich gefroren, wie in jener Reisenacht. Selbst mein Winterzeug nützte mir nichts. – Auch einen Platz zum Ausstrecken mußte ich entbehren. – Aber alles nimmt ein Ende, und als im Donautal die Sonne rot auf den bereiften Flächen lag, war ich frischer, als nach einer Nacht im Schlafwagen. – Daß Bruder Otto (1) mich kaum einen Augenblick verlassen hat, kannst Du Dir denken, aber die Selbstvorwürfe (2) sind verschwunden, es wird ein stilles, wehmütiges Trauergefühl, wie sich’s gehört. –
Von der Probe (3) kann ich Dir nur Wundervolles und Hoffnungsreiches melden. Es wird gearbeitet, wie an einem großen Shakespeare-Stück. Gestern nur zweiter Akt. Aber das müßtest Du sehen: diese Menschenmassen, diese Klangwirkungen, herrlich geradezu! – Thimig (4) ist ein Regisseur von Gottes Gnaden. Man braucht nur mal irgendwo ein Missbehagen leise zu empfinden, und ehe man ein Wort geäußert hat, ist die Sache schon klargestellt und wird beseitigt. – Der Maschinenmeister sagte mir: „Ich führ’ lieber den ‚Apostel’ auf (Du weißt jenes Bahrsche Stück mit dem unerhörten Parlamentsaal) als dieses.“ So große Schwierigkeiten bietet es. – Die Hohenfels (5) ist oder wird natürlich wundervoll, Kainz wie damals, Nissen etwas steifbeiniger.
Die „Figurinen“, die zu Kostümzwecken von dem Dekorationsvorstand gemalt worden sind, bilden eine Mappe voll herrlicher kleiner Kunstwerke, die von dem tiefen Eindringen in den Geist der Dichtung zeugen. Heute kommt der dritte Akt daran. Wenn ich alles so schön werden sehe und an das Gequäle von damals denke, stehen mir, weinseilig, wie ich seit Ottos Tode bin, immer die Tränen in den Augen.
Schlenther (6), der Dich – ebenso wie Kainz – herzlich grüßen lässt, ist mit ganzer Seele dabei. Ich sehe, er will eine große Aktion mit dem Stücke machen. Du kannst Dir denken, wie mich das freut. Er sagte zu mir: Bei näherer Beschäftigung mit dem Stücke erkenne ich immer mehr den mächtigen dramatischen Strom darin, aber er ist häufig unterbrochen und verschüttet. Diese Unterbrechungen müssen beseitigt werden. Nun, das ist durch meine Striche schon geschehen.

(1) Otto Sudermann, der Lieblingsbruder des Dichters, ihm äußerlich und im Wesen am ähnlichsten, war zweiundvierzigjährig an Schlagadererweiterung plötzlich gestorben und auf dem Blankenseer Dorffriedhof beigesetzt worden.
(2) Sudermann neigte in gewissen Gemütsstimmungen stark zu überzogenen Selbstanklagen. Seine Familienangehörigen unterstützte er, seitdem er als Schriftsteller gut verdiente.
(3) Zur Wiener Erstaufführung der „Drei Reiherfedern“ am Hof-Burgtheater. Joseph Kainz spielte, wie vor dreieinhalb Jahren in Berlin, den Prinzen Witte, Hermann Nissen wieder den Hans Lorbaß.
(4) Hugo Thimig, Hof-Burgschauspieler.
(5) Stella Hohenfels, Wiener Hof-Burgschauspielerin. Gattin Alfred Freiherrn von Bergers, des späteren Direktors des Hof-Burgtheaters.
(6) Paul Schlenther, damals Direktor des Hof-Burgtheaters.

 

Wien, den 25. September 1902, Hotel Krantz

Seit gestern morgen habe ich den dritten und vierten Akt kennengelernt. Eine Herrlichkeit, sag’ ich Dir. Ich könnte Dir stundenlang davon erzählen. Das Erscheinen der Königin im dritten Akt wird zu einem ganz gewaltigen Moment. —
Das Bühnenbild hatte folgende Form (1): Im Augenblick das Verbrennens der Feder schlägt der mächtige Vorhang rechts auseinander und man sieht in einen langen, dunklen, vom Monde erhellten Korridor, durch den die weiße Gestalt der Königin langsam nähergleitet. –
Der vierte Akt wird von einer dramatischen Gewalt, so stark, daß ich selbst oft davor erschrecke. Kainz übertrifft bei weitem seine Leistung von damals. – Aber alles macht die unerhörte Regie. Noch nie in meinem Leben hab’ ich so leichte Arbeit gehabt. – Jeder Wunsch erledigt sich von selbst. Wirkungen werden herausgeholt, die ich zwar bei meiner ursprünglichen Konzeption im Auge gehabt, deren Verbildlichung ich aber später nie mehr für möglich gehalten habe. –
Heute gehe ich die „Morituri“. –
Die Zeitungsleute laufen mir das Haus aus. Aber ich verweigere jegliches Interview. – Die Aufführung des „Johannes“ zum Dezember ist in die Wege geleitet.

(1) Es folgt eine Zeichnung, auf der links ein „Erker“, rechts ein „Herd“, ein „dunkler Korridor“, in der Mitte ein „Garten“ usw. angegeben sind.

 

Wien, den 27. September 1902

Du hast einst die Leidenstage miterlebt, Du sollst auch die Freudentage miterleben.
Komm am Mittwoch her, so daß Du Mittwoch abend hier eintriffst. Am Donnerstag soll Generalprobe, am Freitag Aufführung sein.
Es wird einfach wunderbar. Nissen freilich genügt in dieser grandiosen Umrahmung bei weitem nicht, aber woher den Darsteller nehmen, seitdem Baumeister (1) nicht mehr kann? – Kainz ist überwältigend. Dieser Mann ist an Künstlerschaft noch bei weitem über seine Berliner Zeit hinausgewachsen. –
Die Dekorationen und Stimmungen sind von unnennbarem Zauber. Gestern sah ich die Szenerie des ersten Aktes. Man sieht über weite, weiße Dünen hinweg das blaue Meer und sieht sogar den Nachen, in dem Witte daherkommt. Ich möchte Thimig immer die Hände küssen.

(1) Bernhard Baumeister, der berühmte Hof-Burgschauspieler, der u.a. auch den Winkelmann in der „Schmetterlingsschlacht“ gespielt hatte.

zitiert nach Irmgard Leux (Hg.): Briefe Hermann Sudermanns an seine Frau (1891-1924), Stuttgart, Berlin 1932, S. 171-174